Freitag, 28. Dezember 2012

Victor Klemperer auf der Schwelle

Der Tänzer und Choreograph Felix Ruckert betreibt in Berlin die Schwelle7 als einen Ort sowohl für Tanz und Körperarbeit als auch SM und Bondage. Im Rahmen von Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über die Schwelle 7 gab es die Möglichkeit, einige Tage die Arbeit von Felix zwischen kennen zu lernen, eine Möglichkeit, der ich nicht widerstehen wollte, nicht zuletzt um zu sehen, wie jemand anders seine Kunst und seine Obsessionen zusammen bringt. So sehe ich das, was Felix dort macht, so verstehe ich meine eigene Arbeit als Musiker & Performer. In diesem Rahmen gab es inspirierende Begegnungen mit witzigen SM-Unikaten, eine regelrecht meditativ angelegte Heranführung an Züchtigungs-Utensilien, von Felix wunderbar angeleitete Übungen zur Körperwahrnehmung und einiges mehr.

Parallel befand ich mich mitten in der Lektüre der Tagebücher von Victor Klemperer von 1933-1945. Die Themen in den Übungen und Scores in der Schwelle 7: Schmerz, Angst, Lust, Macht, Unterwerfung, Ohnmacht - diese Themen fand ich in den Tagebüchern unter ganz anderen Vorzeichen wieder. Klemperer, als Sohn eines Rabbiners im Dritten Reich als Jude definiert, beschreibt akribisch, wie sich Unterdrückung und Hetze gegen Juden immer weiter steigern und was das für seinen Alltag bedeutet. Als Linguist hat er dabei eine hohe Sensibilität für die Sprache, die er als "LTI - Lingua Tertii Imperii" analysiert hat, und beschreibt die Begebenheiten mit dem unaufgeregten, kühlen Gestus des seinen Gegenstand untersuchenden Wissenschaftlers.

Was mich bei der Lektüre immer wieder frappierte war der hohe Unterhaltungswert von Klemperers Notizen, wie viel Lesevergnügen die von ihm beschriebenen Gefahren und Schrecklichkeiten bereiten und das dieses Phänomen nicht auf mich als Leser beschränkt ist, sondern auch Klemperer selber immer wieder notiert, wie er die Umstände als "romanhaft" erlebt, wie er angesichts unzähliger Toter in seiner Umgebung immer wieder keine Trauer in sich feststellen kann, vielmehr die Regung "Hurra, ich lebe!" - auch wenn ihn dies irritiert.

Die Möglichkeit, dass Leid und Gefahr auch den Geschmack des Abenteuers, des atemberaubenden Erlebnisses bieten, sie ist befremdlich, und doch auch so naheliegend, besonders, wenn man gerade in einem Seminar Reitgerte und Lederpeitsche aneinander ausprobiert.

Diese Utensilien werden mich wohl nicht dauerhaft begleiten, die Motive und Ziele dahinter aber sicherlich schon. Nachdem ich nun alle Tagebücher und auch die LTI gelesen habe, beeindruckt mich an Klemperer am meisten seine Souveränität; wie feinsinnig er beobachtet und wie es ihm gelingt, sich ideologischen Überrumpelungen zu entziehen und trotz allen Anfeindeungen einen wachen, offenen Blick zu erhalten und seine Sicht klar, ja kühl zu formulieren.

Regelrecht lustvoll ist für mich Klemperers Rekonstruktion von Vereinfachungen, die die Nationalsozialisten in propagandistischer Absicht verwendet haben; die Kultiviertheit, die darin liegt, komplexe Sachverhalte auch als etwas Komplexes zu beschreiben, die "macht mich an", hat eine libidinöse Qualität und ich assoziiere sie mit meiner Freude an musikalischer Polyrhythmik - da wird nichts auf einen Nenner gebracht, sondern verschiedene Stimmen stehen als verschieden Nebeneinander.